Abuse & Trauma

Twitter-Diskurs, raus aus meinem Kopf/Bett/Leben!

Wie ich toxische Twitter-Takes verinnerlicht habe und wie sie mich über Jahre hinweg beeinflussen.

Manchmal wünsche ich mir, ich wäre nie bei Twitter-Feminismus gelandet. In fast regelmäßigen Abständen kriege ich „Twitter-Blues“. Das bedeutet, dass es mir ziemlich mies geht, weil ich den queer-feministischen Diskurs auf Twitter zu doll verinnerlicht habe. Weil haufenweise kleine, böse Stimmen in meinem Kopf durcheinander zwitschern und mir mit ihren Hottakes das Leben zur Hölle machen. Erinnert ihr euch an Lutz, meinen inneren, bifeindlichen Troll? Der ist da auch oft dabei.

Vor einigen Monaten habe ich meine privaten Accounts von meiner Twitter-App geschmissen. Übrig geblieben sind nur noch die Profile, die ich für meinen Job und Verein betreue. Wenn ich jetzt privat auf Twitter sein will, muss ich zumindest den Laptop anschmeißen und mich einloggen. Die Zeiten des Doom-Scrollings sind vorbei – das war eine der besten Entscheidungen seit langem! Es ist so wunderschön durch den Tag zu gehen, ohne permanent mitzukriegen wie Sortier-Queers gegenseitig ihre Mikro-Labels mikromanagen. Schön ist das Leben ohne die „He/Him Lesbians“-Debatte, die „Bi Lesbians“-Debatte, die „Pan vs. Bi“-Debatte, die „Kink at Pride“-Debatte und all die anderen anstrengenden Debatten.

Warum ich jedoch weiterhin struggle und jetzt diesen Blogpost schreibe: Ich habe festgestellt, dass ich zwar weg von Twitter kann, aber Twitter nicht aus mir rauskriege. Ich habe auch eine Theorie, warum das so ist: Mir ist aufgefallen, dass ich Trauma-bedingt oft negative Botschaften nicht ausfiltern kann, sondern sofort verinnerliche. Stellt es euch vor wie ein Tor ohne Torwart: Wenn ich zugespitzte Kommentare höre oder lese, die mich als Person oder Personen wie mich betreffen, gibt es keinen Torwart, der sagt: „Das sehe ich anders“ und den Ball wieder zurück kickt. Der Ball landet im Tor und bleibt da – bis ich ihn wieder heraushole. Je nachdem, wie viel Selbstbewusstsein ich bei einem Thema habe, ist es schwerer oder leichter, den Ball wieder herauszuholen.

Ein Beispiel aus dem realen Leben: Als ich im Kund*innenservice gearbeitet habe, fiel mir auf, dass ich immer den Fehler zuerst bei mir gesucht habe, wenn mich ein Kunde kritisierte. Selbst, wenn ich eine Sache ziemlich sicher wusste, konnte mich ein schnippischer Kommentar so verunsichern, dass ich noch mal nachprüfte, was ich ja schon wusste. Im Gegensatz dazu, waren meine Kolleg*innen weniger leicht zu verunsichern, ganz egal wie besserwisserisch ein Kunde am Telefon war.

Was hat das alles mit Twitter zu tun?

Ich habe auf Twitter mein feministisches Awakening gehabt. Hier habe ich die ersten politischen Gehversuche gemacht, die ersten queeren Diskurse mitverfolgt und insgesamt auch sehr viel gelernt. Doch zu Beginn fehlte mir bei vielen Dingen das Selbstbewusstsein, die richtige Einschätzung und die Erfahrung. Um zu der Tor-Metapher zurückzukehren: Mir fehlte das Selbstbewusstsein, das nötig gewesen wäre, um all die Bälle aus dem Tor wieder herauszuholen.

So habe ich all die negativen Botschaften gegen mich – oder Menschen wie mich, die aus der Queer-Fem-Bubble kamen, verinnerlicht. Viele Leute verstehen nicht, warum ich mich nach all den Jahren noch immer mies fühle, weil ich mich eher auf der submissiven Seite des BDSM-Spektrums befinde. Der Grund ist: Weil ich zu Beginn meiner Twitter-Zeit zu viel Diskurs zu den feministischen „Sex Wars“ gefressen habe, darunter viele feminitätsfeindliche und kink-shamende Botschaften. Aus dem gleichen Grund habe ich noch immer die „Bi-Debatte“ von 2014 im Hinterkopf, mit all den bifeindlichen Takes, die damals gefallen sind. Jedes Gebrabbel davon, was denn „nicht queer genug“ oder „unfeministisch“ sei oder, was „echte“ polymouröse Menschen tun oder nicht tun, habe ich internalisiert. Wie klar meine Meinung zu bestimmten Dingen inzwischen sein mag – es hat sich einfach zu viel angesammelt. Es benötigt viel Energie, um all das wieder loszuwerden.

Ein wichtiger Punkt dabei ist, dass auf Twitter die Leute sehr polemisch und konfrontativ schreiben. Hätte ich mich hingesetzt und einen differenzierten Artikel mit über die „Feminist Sex Wars“ gelesen, hätte ich die sex-negative Kritik an BDSM bestimmt nicht so sehr verinnerlicht. Aber ich war eben auf Twitter, wo ich die Hottakes abgekriegt habe, die direkt gegen mich bzw. kinky Frauen gerichtet waren – und zwar von Feminist*innen, die ich als Teil meiner Community verstand und deshalb ernst nahm.

Manchmal denke ich an die Zeit vor Twitter, als ich mich „Proud Pervert“ nannte. Ich konnte kinky und bisexuell sein ohne die ganzen bösen Stimmen im Hinterkopf. Ich hatte meine drei, vier Affären, liebte meine Submissivität, war neugierig meine dominante Seite auszuprobieren und war offen für gleichgeschlechtliche Abenteuer. Heute bin ich bei all diese Dingen extrem verkopft. Anstatt meine Neigung zu genießen, denke ich an die gesellschaftlichen Implikationen meiner Submissivität. Anstatt mich sexuell auf neue Frauen einzulassen, denke ich darüber nach, was für ein Bild von Bisexualität ich gerade abgebe und, was bifeindliche Leute wohl dazu sagen würden. Anstatt mich mit Gender-Bending auszuprobieren, denke ich an Diskurse über „Non-Binary als Trend“. Mein Stammtisch „Anxious Poylam Unite“ wäre nie zustande gekommen, hätte ich nicht so viele böse Kommentare gegen eifersüchtige Menschen abbekommen.

Gleichzeitig war Twitter aber auch eine wichtige Ressource für mich – ich habe tolle Menschen kennengelernt, oft Hilfestellung und Trost gefunden, viel über Queer-Feminismus und Anti-Rassismus gelernt und meine eigenen Privilegien hinterfragt. Zum Teil habe ich auch meine queere Selbstfindung Twitter zu verdanken. Ohne Twitter wäre ich heute eine ganz andere Person.

Trotzdem werde ich den toxischen Twitter-Diskurs nicht los. Trotzdem kriege ich immer wieder „Twitter-Blues“, selbst wenn ich selten auf Twitter bin, meist getriggert von Sortier-Queers, die Gatekeeping betreiben. Die Auswirkungen bemerke ich in meinem privaten, aktivistischen und sexuellen Leben. Mir bleibt nichts anderes übrig, als nach und nach all die Bälle wieder herauszuholen, die sich angesammelt haben.

Was ist die Moral von der Geschicht?

Ich lege allen Menschen ans Herz, die von sich wissen, dass sie negative Kommentare schnell verinnerlichen, lieber zuerst den differenzierten Artikel (wenn vorhanden) zu lesen, anstatt kopfüber in den Twitter-Diskurs zu springen. Wenn das ein sensibles Thema für dich ist, führe dir zuerst vor Augen, welche Werte du vertrittst, ehe du dir steile Thesen reinziehst.

Alle anderen queer-feministischen Tweeple möchte ich erinnern, dass sich Gatekeeping auf Menschen auswirkt. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass sie aus einer Community ausgeschlossen werden, sondern die negativen Bilder auch gegen sich selbst richten, teilweise über Jahre hinweg. Frag dich bei deinen zugespitzten Tweets vorm Absenden öfter, ob du gerade vielleicht nach unten trittst.


P.S. Ich frage mich, ob es auch anderen Menschen, die ihre feministische Politisierung auf Twitter gemacht haben, so geht? Wenn ja: Ich bin sehr interessiert an Austausch! Lass mir gern einen Kommentar da oder schreib mir eine E-Mail!

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